Wenn Hunde sich nicht anfassen lassen
Unsere Hände sind unser wichtigstes motorisches Werkzeug, vom Erkunden bis zur Manipulation unserer Umwelt.
Auch im Umgang mit unseren Hunden nutzen wir sie natürlich viel, unseren Hund zu berühren, ist für uns so normal wie wichtig und wohltuend.
Es gibt jedoch Hunde, bei denen das unmöglich ist, die nicht anfassbar sind.
Nicht immer ist uns dieser Umstand bekannt, bevor wir das gemeinsame Leben mit dem Vierbeiner beginnen. Auch lange Jahre an Hundeerfahrung schaffen nicht automatisch das Bewusstsein für die
Problematik und die Voraussetzungen für den richtigen Umgang mit diesem Thema.
Egal, ob die Entscheidung, einen solchen Hund bei sich aufzunehmen bewusst und voll informiert getroffen wurde, oder ob sich die Tatsache, dass der Hund keine menschliche Berührung zulässt, erst
nach Einzug offensichtlich wird – in jedem Fall stehen wir vor einer großen Herausforderung.
Die gute Nachricht: mit dem entsprechenden Know-How und professioneller Unterstützung sind Veränderungen möglich, und zwar so, dass sowohl Ziele erreicht werden können, als auch das Wohlbefinden
des Hundes bedeutend verbessert wird!
Ursachenforschung
„Meine Güte, was muss der arme Kerl erlebt haben!“
Viele nicht anfassbare Hunde stammen aus dem Auslandstierschutz. Alleine schon diese Tatsache, in Kombination mit ängstlichem Meideverhalten oder defensiver Aggression seitens des Hundes, lässt
in uns sofort Bilder möglicher schlimmer Misshandlungen aufsteigen.
Manchmal nicht zu Unrecht – jedoch sind schlechte Erfahrungen und Gewalterlebnisse mit Menschen nicht immer die Ursache dafür, dass ein Hund alles tut, um menschlichen Kontakt zu vermeiden.
Beteiligt sind auch häufig genetische Veranlagung oder ein Mangel an positiven und neutralen Erfahrungen mit Menschen im Zuge der Entwicklung.
Lebt eine Hundepopulation unter ständigem hohen Gefahrendruck durch den Menschen, wie es in vielen Regionen der Fall ist, in denen Straßenhunde als Landplage betrachtet und dezimiert werden, wo
immer möglich, überleben jene Individuen, die eine große Fluchtdistanz zum Menschen haben und den direkten Kontakt scheuen. Dies wird an die Nachkommen weiter gegeben.
Wir wissen auch, dass in den sensiblen Phasen der Welpen- und Junghundezeit fehlende Erfahrungen das Bild eines Hundes von seiner Umwelt und seine Reaktionen darauf stark beeinflussen. Ein
Aufwachsen in Massentierheimen, auf einem verlassenen Grundstück oder auf Müllkippen bietet keine Möglichkeiten, den Menschen als Sozialpartner kennen zu lernen.
Eingefangen oder ausgesetzt zu werden, Transport oder medizinische Vorbereitung darauf, Kastration, Chippen ect., stellen für einen Hund, der mit Menschen davor kaum oder keine positiven
Erfahrungen hatte, traumatische Erlebnisse dar.
All diese Faktoren können dazu führen, dass der neue Begleiter alles daran setzt, um mit uns nicht in Kontakt sein zu müssen. In seiner Welt stellt dies die einzige Möglichkeit dar, seine
Sicherheit und sein Überleben zu garantieren!
Im Shelter konnte man ihn anfassen, aber jetzt…
Eines der Hauptprobleme besteht darin, dass nicht anfassbare Hunde oft nicht als solche erkannt werden, weil das Verhaltensrepertoire, das darauf hinweist, viel zu wenig bekannt ist.
Hier wird oft alles an Hund, das nicht massiv die Zähne ausfährt bei Annäherung, als gut anfassbar, vielleicht „etwas schüchtern“ oder „etwas reserviert“ vermittelt.
bilder in sozialen medien
In den sozialen Medien wimmelt es von Videos von Hunden in Tierheimzwingern, die von Tierschützer:innen für die Kamera gestreichelt werden.
Weiß man, worauf es zu achten gilt, sieht man eine Unzahl an klaren Signalen, die zeigen, dass dieser Hund menschliche Berührung nicht möchte, oft eigentlich nicht erträgt.
Manche verfallen in höchst agitiertes Verhalten, wuseln in alle Richtungen gleichzeitig – interpretiert wird das als überschwängliche Freude, dass endlich mal ein Mensch auftaucht. Genauere
Betrachtung zeigt uns jedoch deutliches Stress- und Konfliktverhalten. Der Hund „fiddelt“, weil er sich nicht sicher fühlt und der Situation gern entginge.
Etwas leichter zu erkennen ist das „Einfrieren“. Erstarrt ein Hund in Reglosigkeit, lediglich die Augen bewegen sich und das Weiß darin wird sichtbar, stellt das gut gemeinte Streicheln für die
Kamera für den Hund eine furchtbare Bedrohung dar. Die Angst lässt ihn handlungsunfähig werden. Er hofft einfach nur, diese Interaktion zu überleben.
Die Annahme, dass er das schon lernen wird, dass ihm dabei nichts passiert, ist übrigens ein vollkommener Irrglaube!
„Zwangskuscheln“
Nicht nur in ausländischen Tierheimen, in denen aufgrund der schwierigen Umstände das Know-How oft verständlicher Weise fehlt, auch hierzulande und in deutschen Tierheimen führt diese irrige Annahme zur Anwendung des sogenannten Zwangskuschelns.
Der Hund wird wieder und wieder intensivem Körperkontakt, trotz Einfrieren, Fluchtversuchen und Gegenwehr, ausgesetzt, weil er lernen soll, das ihm ja nichts geschieht. Dieser Rat geistert leider
häufig durch die Tierschutz-Community.
Fakt ist, dass hier wiederholtes Angstlernen stattfindet, und dem Hund daher sehr wohl aus seiner Perspektive etwas passiert: er fürchtet sich.
Nutzen alle seine Strategien nicht, diesen Vergewaltigungen ähnlichen Situationen zu entgehen, gibt er es irgendwann auf. Wie auch Menschen ihren Gewalttätern gegenüber, zeigt sich der Hund dann
möglichst angepasst und „nett“, um weiteren Schaden zu vermeiden. Mangelndes Wissen verleitet dann den Menschen dazu, anzunehmen, der Hund habe nun gelernt, die Berührung großartig zu finden.
Unter dieser Oberfläche hat sich jedoch nichts zum Guten verändert. Abgesehen vom eingeschränkten Wohlergehen des Hundes stellt diese Vorgangsweise ein hohes Sicherheitsrisiko dar. Da Emotionen
und Verhalten nur unterdrückt sind, ist das Risiko von plötzlicher Abwehr und unvorhergesehenem Aggressionsverhalten hoch, wenn der Druck auf den Deckel zB in besonders stressigen Situationen zu
hoch wird.
Das sind dann jene Hunde, über die es heißt:
„Man konnte immer alles mit ihm machen, keiner hätte gedacht, dass so etwas passiert!
Bleibt die Frage: Was tun, wenn sich der Hund nicht berühren lässt?
Regel Nummer eins: es sein lassen.
Jedem Hund gegenüber muss ein Versprechen gelten:
„Ich berühre dich erst, wenn du mich dazu aufforderst!“
Gerade bei frisch adoptierten Hunden sollte man nicht erst auf überdeutliche Signale des Unwohlseins oder der Abwehr warten – dieses Versprechen wird im Vorfeld gegeben! Es sollten nicht davor
Experimente gestartet werden, was der Hund denn zulässt, bis die Situation eskaliert.
Möchte der Hund Kontakt zu uns, wird er uns das klar mitteilen.
Dann findet dieser Kontakt auf der Basis von Freiwilligkeit und nach seinen Konditionen statt.
Liebe geht durch den Magen
– über Handfütterung zum Anfassen?
Hier gibt es eine klare Antwort: NEIN.
Knüpfen wir die Erfüllung eines Grundbedürfnisses – der Nahrungsaufnahme – an die Bedingung, mit uns in Kontakt zu treten und sich berühren zu lassen, gehen wir den gleichen Irrweg wie die
„Zwangskuschler“.
„Komm zu mir oder hungere eben!“ ist nicht die freie Auswahl, die dann tatsächlich zu einem Hund führt, der unsere Nähe und unsere Berührung möchte und schätzt.
Das gleiche gilt übrigens für dauerhaft angelegte Sicherheitsgeschirre und Hausleinen, mit denen der Hund in der Nähe gehalten wird und „den Alltag miterleben“ soll – solche Zwangslagen können
nur zur Aufgabe, nie zu Vertrauen führen! Das ist nicht das gleiche Ergebnis.
Indem wir dem Hund Zeit und Raum geben, uns unbehelligt zu beobachten und aufgrund unseres rücksichtsvollen Verhaltens als ungefährlich einzustufen, ermöglichen wir es ihm, dass eine Annäherung an uns überhaupt eine Handlungsoption für ihn wird. Druck wird ihn immer von uns entfernen, egal wie wohlmeinend ausgeübt.
In unserer Gegenwart kann er gute Dinge erwarten, die bedingungslos Sein sind.
Der Schinken, der liegen bleibt, wenn wir vorbeigegangen sind.
Die Futterschüssel, die wir in seiner Nähe platzieren und uns zurückziehen.
Die Käsestückchen, die zu ihm kullern, wenn wir uns in angemessener Distanz mit unserem Abendessen auf den Boden setzen.
Das Leckerchen, das wir in eine Serviette verpackt und ihm hingelegt haben, während wir mit einem Buch da sitzen und nur verstohlen beobachten, wie er es auspackt.
Aufforderungen, her zu kommen, unterbleiben – das verlässliche, positive Anbieten unserer Gegenwart ist der Aufforderung genug.
Entscheidet sich der Hund, seine Distanz zu uns zu verringern, bleiben unsere Hände zuverlässig weg von ihm! Erkunden, Berühren gehen vom Hund aus – wir bieten nur die Möglichkeit dazu.
Es ist enorm wichtig, sich frühzeitig professionelle Unterstützung zu holen, wenn sich zeigt, dass der neue vierbeinige Wegbegleiter von unserer Nähe nicht viel hält.
Guter Wille, Zuneigung und Mitgefühl lassen uns nur allzu leicht in kontraproduktive Verhaltensweisen stolpern.
Gut ausgebildete Trainer:innen, die das Hintergrundwissen und den Erfahrungsschatz im Umgang und Leben mit nicht anfassbaren Hunden haben, sind wertvolle Wegbegleiter:innen zu dem Punkt, an dem
der Hund uns dann plötzlich sagt: „Hier bin ich – und ich möchte bitte berührt werden.“, und darüber hinaus.
Für Notfälle ist es wichtig, tierärztliche Unterstützung zu haben, wo die Problematik bekannt ist und man vorbereitet ist auf unseren besonderen Hund. Medikamentöse Unterstützung kann
verhindern, dass der Hund eine unumgängliche Behandlung voll bewusst miterleben muss – um das zu ermöglichen, ist es jedoch nötig, den Kontakt vor dem Eintritt eines Notfalls zu suchen und ein
Handlungsprotokoll für den Fall der Fälle gemeinsam vorzubereiten.
Wohin der Weg auch führt – unser Wort gilt!
Während ich dies schreibe, liegt neben mir Eilian, mein Tierschutzmädchen, eng angekuschelt.
Eilian war eine von den Fiddlern. Sie hüpfte in den Videos lustig herum, wenn die Menschenhand sie berührte, lief hin und weg und sprang im Kreis. Auf den ersten Blick fand sie das toll – oder?
Ich habe Eilian die ersten Wochen nach ihrer Ankunft nicht angefasst. Auf keinen Fall wollte ich sie in die Situation bringen, aus ihrem Fiddeln oder ihrem netten Stillhalten in Flucht oder
Abwehr gehen zu müssen. Sie legte sich im Garten zu mir, sie tapste mir schon hinterher, sie hüpfte sogar schon auf’s Bett – meine Hände bleiben bei mir.
Bis ich eines Tages, ganz ähnlich wie heute, hier saß und schrieb, und sich plötzlich ein schwarzes Hundeköpfchen unter meinen Arm schob. Genau dreimal streichelte ich Eilian sanft über die
Schulter. Dann hörte ich auf. Sie ging.
Als sie wieder kam, streichelte ich wieder dreimal. Sie blieb und wartete. Erst als ihre Pfote zaghaft in Richtung meiner Hand tapste, streichelte ich weiter.
In diesem Moment wurde Eilian klar, dass sie bestimmt. Dass ihr Einverständnis zählt. Und jeglicher Konflikt, den Berührung je in ihr erzeugt hatte, löste sich in Luft auf.
Heute schmust und kuschelt Eilian, sie wird gerne gebürstet, sie steckt den Kopf in ihr Brustgeschirr. Weil sie sich darauf verlassen kann, dass ich ihr zuhöre und das immer tun werde.
Weil Vertrauen kann niemals erzwungen werden.
Susanne Junga-Wegscheider
Diplompädagogin und tierschutzqualifizierte Hundetrainerin
www.vöht.at/susanne-junga-wegscheider
Fotos: Susanne Junga-Wegscheider
Anmerkung der VÖHT:
Die Blogtexte geben die individuelle Meinung und Herangehensweise der Autorin, des Autors wieder.